Als ich gerade auf DVD ein paar Star Trek: Voyager-Episoden sah, darunter eine, in der sie auf dem Holodeck die Legende von Beowulf nachstellen, kam mir der Song »Grendel« von Leslie Fish ins Ohr, vor allem die Zeile »I know, you would be sorry, if you weren't so very dead«, und das wiederum erinnerte mich daran, dass ich seit Jahren ein mehr als halbfertiges Lied in der Schublade liegen habe, an dem ich endlich mal weiterschreiben könnte. Ehe ich mich beschwere, dass ich zu wenig Ideen für neue Songs habe, könnte ich doch mal die Baustellen abarbeiten, bei denen ein paar wirklich schöne Sachen sind - und dafür muss ich nicht nur auf Jelas Schreib-das-Lied-zuende-Workshops warten, sonst dauert das Jahre, so viele unfertige Lieder sind das, die ältesten noch aus dem Jahr 2000. So kam ich jetzt also auf »Mein Bruder«. Das Lied hat zwar weder im Entferntesten mit Star Trek zu tun, noch mit Beowulf und/oder Grendel, aber es enthält die Zeile »Meine Bruder, mein Bruder, ich liebe dich sehr / doch wärst du am Leben, ich liebte dich mehr«.
Was sehr düster klingt, und es auch ist, basiert auf einem lustigen Kinderbuch: »Die Akademie des Meisters Klex« ist eines von Peredars Lieblingskinderbüchern. Ein polnischer Vorgänger von Hogwarts, ist dies die spaßige Geschichte des Zaubermeisters Klex und seinen Zauberschülern, die allerlei vergnügte Abenteuer erleben, eher locker erzählt und ohne festen Handlungsstrang. Das ist die eine Seite der Geschichte. Die andere Seite erzählt von zwei Brüdern, die als Schüler auf diese Akademie kommen: Ein Junge und ein Golem, der Meister Klexens Zauberei braucht, um zum Leben erweckt zu werden, sich dann aber als bösartig herausstellt und am Ende zerstört wird. Ich finde ja die Harry Potter-Bücher zunehmend grausam und nur bedingt kindertauglich, aber das muss ich letztlich auch über den lustigen »Meister Klex« sagen - vielleicht noch mehr, denn diese Episode kommt ohne Vorwarnung in einem Buch, das als bunt und lustig ausgezeichnet ist.
Ich wusste sofort, dass ich über die Geschichte der beiden Brüder ein Lied schreiben will, und hatte auch gleich eine Melodie im Kopf und den Refrain. Das war 2004. Vom Klang her ist es mehr wie etwas, das
Summer & Fall singen würden, es hat dieses Opernhafte, das sonst von Eva kommt, und der Text mutete ein wenig wie etwas von Ju an, aber betrachtet man die ganze Geschichte, ist sie natürlich wieder typisch Thesilée, und am Ende sind alle tot. Ich schrieb noch zweieinhalb Strophen, und dann versiegte die Inspiration. Aus Erfahrung weiß ich, dass Lieder eine gewisse Länge nicht übersteigen sollten - und das musste ich auf die harte Tour lernen, denn meine frühen Lieder sind durch die Bank viel, viel zu lang - und scheiterte bei der Vorstellung, wie ich die ganze Geschichte in nicht mehr als vier oder fünf Strophen unterbringen sollte. Das Lied blieb liegen, und acht Jahre lang verschwendete ich keinen Gedanken daran.
Die acht Jahre haben dem Song gutgetan. Nicht, weil ich mich in der Zeit soviel weiterentwickelt hätte als Songschreiberin, aber weil ich in der Zwischenzeit weite Teile von »Die Akademie des Meisters Klex« schlichtweg vergessen habe. Nur das wirklich Relevante ist hängengeblieben, und mehr als das wirklich Relevante gehört auch nicht in das Lied. Es ist ein alter Denkfehler von mir, dass ein Buch zu einem Roman den ganzen Roman nacherzählen muss. Das hat schon mehr als ein Lied als Ruine zurückgelassen, weil es einfach nicht realisierbar ist - nicht, wenn das Lied weniger als zehn, zwanzig Strophen haben muss. Tatsächlich soll das Lied den Roman doch überhaupt nicht ersetzen. Ich nehme mir einen Aspekt und mache etwas daraus, das am Ende für alle zu verstehen ist, ob sie das Buch nun kennen oder nicht. Mit diesen acht Jahren Abstand nahm ich mir also »Mein Bruder« nochmal vor, begriff, dass ich eigentlich nur noch sehr wenig zu tun hatte, und schrieb die fehlenden zweieinhalb Strophen. Indem der Refrain nur nach jeder zweiten Strophe gesungen wird. bekommt der Song zusätzliche Straffung, und mit dem fertigen Ergebnis bin ich sehr zufrieden. Manchmal wird eben doch gut, was lange währt.
Der fertige Text kann hier bewundert werden:
Mein Bruder.